Der komplexe Bereich der Medizinprodukte und der In-vitro-Diagnostik

“Der Bereich der Medizinprodukte ist sehr groß: Es gibt mehr als zwei Millionen Medizinprodukte auf dem Markt”

Seit dem 26. Mai 2021 gilt eine neue europäische Verordnung für Medizinprodukte, und im Jahr 2022 werden auch neue Vorschriften für In-vitro-Diagnostika in Kraft treten. Die neue Gesetzgebung bringt zahlreiche Änderungen mit sich. So können Produkte nun in eine andere Risikoklasse fallen und müssen strengere Sicherheits- und Qualitätsanforderungen erfüllen. Die neue europäische Gesetzgebung hat daher erhebliche Auswirkungen auf Hersteller, Importeure, Händler und alle anderen Akteure der Branche.  Auch bei der FAAG wurden viele Verfahren angepasst und neue Aufgaben aufgenommen. Die Kollegen Alexandre Jauniaux, Christophe Driesmans, Katrien Martens, Steve Eglem und Valerie Nys sprechen über die Vorbereitung und den Stand der Dinge der neuen Gesetzgebung.

Wie haben die Rechtsvorschriften für Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika in der Vergangenheit funktioniert?
AJ (Leiter der Abteilung Gesundheitsprodukte): Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass der Bereich der Medizinprodukte sehr groß ist: Es gibt mehr als zwei Millionen Medizinprodukte auf dem Markt. Bevor die neuen Verordnungen, die Verordnung (EU) 2017/745 und die Verordnung (EU) 2017/746, in Kraft traten, haben wir drei europäische Richtlinien befolgt.

Erstens gab es die Richtlinie 93/42/EWG, die für alle Medizinprodukte galt. Sie umfasste fast alles, was einen diagnostischen oder therapeutischen Zweck hat: von Software bis zu Medizinprodukten für die Diagnose oder Medizinprodukten für die Empfängnisverhütung.

Zweitens gab es die Richtlinie 90/385/EWG, die für aktive implantierbare Medizinprodukte galt. Dabei handelt es sich um Geräte, die von einer anderen Energiequelle als dem Menschen oder der Schwerkraft abhängen: Es handelt sich also hauptsächlich um batteriebetriebene Geräte, wie z. B. Herzschrittmacher.

Zu guter Letzt gab es die Richtlinie 98/79/EWG über In-vitro-Diagnostika. Dabei handelt es sich um Instrumente zur Bestimmung physiologischer Parameter, wie PCR, Antigen- oder serologische Tests zum Nachweis von COVID-19.

Diese drei Richtlinien betrafen alles, was mit Medizinprodukten zu tun hatte, von der Herstellung über die Verwendung bis hin zur Vermarktung.

Warum war diese neue Gesetzgebung notwendig? Worin besteht ihr Ziel?
AJ: Die beiden seit 2017 veröffentlichten Verordnungen, die Verordnung (EU) 2017/745 und die Verordnung (EU) 2017/746, sollen für mehr Transparenz bei den Daten von Medizinprodukten sorgen und auch die Rückverfolgbarkeit und Sicherheit von Medizinprodukten verbessern. Im Rahmen der beiden Verordnungen wurde die Eudamed-Datenbank geschaffen, die es den verschiedenen für Medizinprodukte zuständigen Behörden, den Akteuren und der Öffentlichkeit ermöglicht, auf gemeinsame und gemeinsame spezifische Daten über Medizinprodukte zuzugreifen. Dies wird letztendlich zu einer besseren Qualität und Sicherheit der Produkte führen.

Steve Eglem – Katrien Martens – Valérie Nys – Alexandre Jauniaux – Christophe Driesmans

VN: Das Inkrafttreten der neuen Rechtsvorschriften bedeutete eine kleine Revolution für alle FAAG-Dienststellen, die sich mit Medizinprodukten befassen. Daher beschloss das Direktorium, einen Projektleiter zu ernennen, der die Änderungen auf bereichsübergreifender Ebene überwacht. Alle notwendigen Anpassungen der Prozesse, der Gesetzgebung, der IT und der Kommunikation wurden übergreifend überwacht, um ein gemeinsames und koordiniertes Vorgehen innerhalb der verschiedenen beteiligten Abteilungen zu gewährleisten. Wir haben mit diesem Projekt bereits 2017 begonnen, noch vor Ankündigung der Verordnungen, um rechtzeitig fertig zu werden. Die größte Herausforderung war zweifellos die Anbindung unserer Anwendungen an die europäische Datenbank Eudamed.

Was hat sich durch die neue Gesetzgebung für Ihren Bereich verbessert?
KM (Leiter der Abteilung Medizinprodukte): Wir begrüßen, dass die Pflichten der verschiedenen Akteure in den neuen Rechtsvorschriften klarer definiert sind. Sie enthalten nun spezifische Artikel, in denen die Pflichten des Herstellers, des Bevollmächtigten, des Händlers und des Importeurs festgelegt sind. In Belgien gab es zwar nationale Rechtsvorschriften für Händler, aber keine auf europäischer Ebene.

So ist in den Verordnungen beispielsweise genau beschrieben, welche Elemente ein Qualitätssicherungssystem enthalten muss und was in den technischen Unterlagen enthalten sein muss. Das erleichtert die Arbeit unserer Inspektionsdienste natürlich erheblich. Wenn alles klar definiert ist, ist es viel einfacher, alle auf einen einheitlichen Kurs zu bringen. Dies lässt auch weniger Raum für individuelle Interpretationen und damit weniger Raum für Diskussionen. Leider enthalten die neuen Texte noch viele Elemente, die für Diskussionen und Interpretationen offen sind.

SE (Verantwortlicher des Referats für klinische Prüfungen von Medizinprodukten der Abteilung Forschung und Entwicklung (Verwendung beim Menschen): Im Bereich der klinischen Studien, die auch als klinische Forschung und Leistungsforschung bezeichnet werden, hat sich viel verändert. Der große Unterschied besteht darin, dass der Schwerpunkt der Richtlinien auf den Phasen nach dem Inverkehrbringen des Medizinprodukts lag. Dies lag vor allem daran, dass sich der Hersteller nur auf in der Literatur veröffentlichte klinische Daten stützen konnte, um ein ähnliches Produkt zu vermarkten.

Mit den beiden neuen Verordnungen wird dies schwieriger, da der Hersteller nachweisen muss, dass er tatsächlich Zugang zu den technischen Unterlagen des Produkts des Wettbewerbers hatte, auf das er sich bezieht, bevor diese klinischen Daten verwendet werden können. In der Praxis wird dies die Sicherheit von Medizinprodukten erhöhen, was natürlich sehr positiv ist. Für In-vitro-Diagnostika (IVD) enthält die Leitlinie außer den Meldungen nicht viel über klinische Prüfungen. Mit den neuen Vorschriften ist nun ein Genehmigungsantrag obligatorisch, was eine Reihe von neuen Anforderungen mit sich bringt.

Es ist also eine ziemliche Umstellung, sowohl für uns als auch für die Hersteller und Sponsoren. Eine weitere wichtige Änderung betrifft die Zertifizierung von In-vitro-Diagnostika. Früher war eine Selbstzertifizierung möglich, doch jetzt ist eine Bewertung durch eine dritte Partei, eine benannte Stelle, erforderlich. Sie prüft die technische Dokumentation des betreffenden Medizinprodukts, bevor es in Verkehr gebracht wird. Daher müssen solide und zuverlässige klinische Daten vorgelegt werden. Dies wird wahrscheinlich bedeuten, dass in Zukunft noch viele weitere Studien bearbeitet werden müssen. Aber diese Maßnahmen sind natürlich alle im Interesse der Patientensicherheit.

CD (Leiter des Büro Materiovigilanz der Abteilung Vigilanz): Die neuen Rechtsvorschriften sind in mehreren Bereichen ein großer Schritt nach vorn, aber der größte Fortschritt steht noch bevor. Im Jahr 2023 wird die europäische Datenbank Eudamed an den Start gehen. Die Hersteller müssen sich und ihre Produkte in dieser Datenbank registrieren lassen, sodass wir ein klareres Bild von allen Medizinprodukteherstellern erhalten. Unter anderem werden alle schwerwiegenden Vorkommnisse mit Medizinprodukten in eine europäische Datenbank aufgenommen. Wenn man alle Daten in Europa zusammenführt, kann man die Vorfälle natürlich viel besser untersuchen. Außerdem müssen die Hersteller jährlich Rechenschaft über alle Tätigkeiten ablegen, die sie nach dem Inverkehrbringen ihrer Produkte durchführen. Das ist eine deutliche Verbesserung.

Die neuen Verordnungen sind also eindeutig ein Schritt nach vorn, aber welche Auswirkungen hat dies in der Praxis auf Ihre täglichen Aufgaben?
AJ: In meiner Abteilung mussten wir alle Prozesse anpassen. Alle Meldungen laufen nun über die Eudamed-Datenbank, wodurch sich der Verwaltungsaufwand auf die Akteure verlagert. Von unserer Seite aus werden wir uns stärker an der Marktüberwachung und der Kontrolle der in Eudamed registrierten Produkte beteiligen: thematische Maßnahmen, Koordinierung mit der Generaldirektion Inspektion usw. Wir werden also unsere Arbeitsweise komplett ändern müssen.

KM: Wir müssen unsere Verfahren tatsächlich anpassen, aber die Art und Weise der Inspektion ändert sich nicht vollständig. Wie mein Kollege Christophe sagte, wird die große Veränderung kommen, wenn die Eudamed-Datenbank in Kraft tritt. Dann werden wir endlich alle unsere Akteure kennenlernen, denn derzeit muss sich nicht jeder Importeur, Vertreter oder Hersteller registrieren lassen. Wenn wir genaue Daten haben, wird es viel einfacher sein, Inspektionen zu organisieren. Das bedeutet für uns eine große Verbesserung, da wir unseren Markt besser kennenlernen.

Wie werden sich die neuen Rechtsvorschriften auf die Arbeitsbelastung auswirken?
CD: Die erhöht sich deutlich. Durch neue Rechtsvorschriften sind uns neue Aufgaben übertragen worden. Es gibt noch weitere Dinge zu überprüfen. Auch die Zusammenarbeit ist viel wichtiger. In den neuen Verordnungen wird viel deutlicher beschrieben, wie wir zusammenarbeiten sollten, wie wir Pläne aufstellen sollten, wie wir mit anderen Mitgliedstaaten zusammenarbeiten sollten. Im vergangenen Jahr wurden 33 Leitfäden zu den neuen Rechtsvorschriften veröffentlicht. Wir haben mit den anderen Mitgliedstaaten zusammengearbeitet, um diese Texte auszuarbeiten und zu überprüfen.

SE: Die Arbeitsbelastung ist für alle deutlich gestiegen. Vor allem, da wir jetzt von europäischen Richtlinien, die in nationalen Gesetzen verankert sind, zu strengeren europäischen Rechtsvorschriften übergegangen sind. Dies erfordert auch mehr Einigkeit auf europäischer Ebene: Leitlinien, gemeinsame Auslegung, engere Zusammenarbeit, Koordinierung bestimmter Bewertungen usw.

CD: Die neuen Vorschriften betreffen mehrere Akteure, vor allem aber die Hersteller. Es wird oft vergessen, dass wir für alle verantwortlich sind. Für Händler, Hersteller, einige Krankenhäuser und auch für Ärzte. Wir müssen versuchen, sie in das Ganze einzubinden. Wir müssen zusätzliche Gesetze schreiben, aber auch erklären, wie diese Gesetze strukturiert sind und was sich geändert hat. Es gibt also eine Menge zu tun, damit die Beteiligten die Rechtsvorschriften kennen und ordnungsgemäß befolgen.

AJ: Die Arbeitsbelastung ist für alle Akteure in diesem Bereich hoch, aber auch für die zuständigen Behörden, die benannten Stellen und sogar für die Europäische Kommission. Die Arbeitsbelastung ist für alle gestiegen: Die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter hat sich verfünffacht. Aber das gilt für alle und erfordert Umstrukturierung und Zeit.

Sehen Sie auch Schwierigkeiten, die der Sektor noch zu überwinden hat?
AJ: Die Beteiligten sind nicht sehr glücklich. Mehr Sicherheit bedeutet mehr Kontrolle durch die notifizierten Stellen. Das bedeutet längere Verfahren, und auch die Arbeitsbelastung der benannten Stellen steigt enorm. Alles wird auf den Kopf gestellt.

SE: All diese Veränderungen verursachen auch erhebliche Kosten für die Branche. Und das kann sich letztendlich auf den Markt auswirken …

KM: Dann besteht die Gefahr, dass die Unternehmen wirtschaftliche Entscheidungen treffen müssen und viele Produkte auf der Strecke bleiben. Wir hören diese Signale jetzt häufig. Auch Produkte, die bereits auf dem Markt sind, müssen aufgrund der neuen Gesetzgebung angepasst oder neu zertifiziert werden. Wenn das den wirtschaftlichen Gewinn nicht aufwiegt, werden die Hersteller eine schwierige Entscheidung treffen müssen.

Also … mehr Arbeit für alle, aber mehr Transparenz und Gesundheitsgarantien. Lassen Sie uns zum Schluss einen Blick in die Zukunft werfen. Was bleibt zu tun, nachdem die neuen Rechtsvorschriften in Kraft getreten sind?
CD: Im Moment freuen wir uns vor allem auf das vollständige Inkrafttreten der Eudamed-Datenbank im Jahr 2023. Wir haben unser gesamtes IKT-System für Programme und Datenbanken überarbeitet. Die Datenbank ist bereits teilweise aktiv, ihre Nutzung ist jedoch freiwillig und nicht obligatorisch. Ab dem nächsten Jahr werden alle Akteure sich und ihre Produkte dort registrieren. Dann haben wir wirklich einen guten Überblick über den europäischen Markt. Das wird wirklich ein Neuanfang sein.

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