Die nicht-klinische Bewertung neuer Arzneimittel zeigt, wie eng Wissenschaft und gesellschaftliche Fragen miteinander verwoben sind

Die nicht-klinische Forschung spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung neuer Arzneimittel und Behandlungen. Obwohl klinischen Prüfungen am Menschen die meiste Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist die nicht-klinische Forschung für das Verständnis der Sicherheit und Wirksamkeit potenzieller Behandlungen von enormer Bedeutung. Die nicht-klinische Forschung umfasst Tierversuche (In-vivo-Forschung), Tests an Zellkulturen (In-vitro-Forschung) und Computersimulationen (In-silico-Forschung). Die Erkennung potenzieller Probleme frühzeitig im Entwicklungsprozess trägt zur Rationalisierung klinischer Studien bei, führt zu besseren Ergebnissen für die Studienteilnehmer und verbessert letztlich die Arzneimittel.

Die FAAG verfügt über ein spezielles Team von nicht-klinischen Gutachtern, die potenzielle neue Arzneimittel als erste beurteilen. Bevor klinische Prüfungen am Menschen beginnen dürfen, werden die Sicherheit und Wirksamkeit eines potenziellen neuen Arzneimittels untersucht. Zu diesem Zweck bewertet das Team, ob die Tests an Zellkulturen, Tieren und Computersimulationen ordnungsgemäß konzipiert und durchgeführt wurden, wie die Ergebnisse aussehen und wie die Ergebnisse in Entscheidungen umgesetzt werden können, die sich auf die Verabreichung des Testprodukts an gesunde Freiwillige und Patienten auswirken. Die Evaluatoren arbeiten nicht in einer Blase. Sie müssen gesellschaftliche Fragen wie die Ethik von Tierversuchen sowie wissenschaftliche und technologische Fortschritte berücksichtigen, bei denen beispielsweise Computersimulationen bestimmte Tierversuche ersetzen können oder bei denen in Zukunft künstliche Intelligenz zum Einsatz kommen wird. Sie arbeiten in einem internationalen Kontext, in dem ihr Fachwissen und ihre Erfahrung sehr geschätzt werden.

Das 3R-Konzept: ein verantwortungsvoller Ansatz für Tierversuche

Das 3R-Konzept besteht bereits seit den 1950er-Jahren und steht für Replacement, Reduction und Refinement. Es wurde als Reaktion auf die wachsende öffentliche Besorgnis über Tierversuche entwickelt. Replacement oder Ersatz beinhaltet die Suche nach Methoden ohne Tierversuche, wie z. B. Alternativen mit menschlichen Zellen, physikalisch-chemische Tests und Computersimulationen. Bei Reduction oder Reduktion geht es darum, die Zahl der Versuche und die Zahl der Versuchstiere pro Versuch zu verringern, während bei Refinement oder Verfeinerung die Bedingungen für die Tiere so optimal wie möglich gestaltet werden sollen, um ihre Schmerzen zu verringern und ihren Lebensraum zu verbessern.

3R

Europa hat dieses Konzept in den 1980er-Jahren gesetzlich verankert, und seither müssen alle Tierversuche den 3R-Vorschriften entsprechen. Obwohl die Gesetzgebung strenger geworden ist, werden die ethischen Aspekte von Tierversuchen immer noch diskutiert. Jüngere Initiativen wie die European Citizens Initiative haben dazu geführt, dass 1,4 Millionen Europäer die Europäische Kommission aufgefordert haben, die Rechtsvorschriften für Tierversuche weiter zu verschärfen und einen Maßnahmenplan vorzulegen, um den Einsatz von Versuchstieren schrittweise einzustellen. Der Einsatz von höheren Säugetieren wie nicht-menschlichen Primaten, Hunden und Schweinen ist nach wie vor ein besonderes Problem.

Durch die Einhaltung des 3R-Konzepts können Forscher und die Regierung einen verantwortungsvollen und respektvollen Umgang mit Tierversuchen sicherstellen. Neue Methoden, wie z. B. Organe auf einem Chip und Computermodelle, sind Gegenstand intensiver Forschung und könnten der Arzneimittelentwicklung zugute kommen. Mehrere 3R-Methoden wurden bereits von den Regulierungsbehörden der Europäischen Union im Rahmen spezifischer Arzneimittelakten anerkannt, und einige Methoden sind in internationalen Leitlinien oder Monographien des Europäischen Arzneibuchs (offizielles Handbuch den Vorschriften für die Herstellung von Human- und Tierarzneimitteln) enthalten.

Obwohl die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) die Verwendung von 3R schon immer unterstützt hat, wurde 2022 nach der Umstrukturierung der EMA-Arbeitsgruppen eine neue Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit den wissenschaftlichen Ausschüssen für Human- (CHMP) und Veterinärmedizin (CVMP) eingerichtet. Die Gemeinsame CVMP/CHMP 3R-Arbeitsgruppe (J3RsWP unter dem Vorsitz von Sonja Beken) hat das Ziel, durch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten eine sichtbare Führungsrolle im Bereich 3R in Europa zu übernehmen. In Zusammenarbeit mit der Innovation Task Force der EMA wird die Qualifizierung neuer 3R-Methoden gefördert.

Warum werden immer noch höhere Säugetiere in der Arzneimittelforschung eingesetzt?

Jährlich werden in Europa etwa 1,1 Millionen Tiere für die regulierte Forschung an neuen Arzneimitteln (für den menschlichen und tierärztlichen Gebrauch) eingesetzt. Es handelt sich hauptsächlich um Nagetiere. Höhere Säugetiere wie Schweine, Hunde und nicht-menschliche Primaten werden in geringerer Zahl (etwa 2 %) verwendet. Höhere Säugetiere werden auch in der translationalen Forschung eingesetzt, die das Bindeglied zwischen der Grundlagenforschung und der spezifischen Forschung nach potenziellen Arzneimitteln darstellt, insbesondere um die möglichen Auswirkungen von Arzneimitteln auf den gesamten Körper, die Organe und das Immunsystem zu untersuchen. Dies ist bei komplexen Krankheiten wie Krebs und Immunkrankheiten von entscheidender Bedeutung, da hier die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Systemen im Körper verstanden werden müssen, um wirksame Behandlungen zu entwickeln. Es ist nach wie vor wichtig, die Vorteile des Einsatzes dieser Tiere in der wissenschaftlichen Forschung gegen die ethischen Bedenken abzuwägen.

Sonja Beken

Sonja Beken

Sonja Beken, Leiterin des Teams der nicht-klinischen Evaluatoren und Vorsitzende von J3RsWP, erklärt ihre Sichtweise:
„Im Grunde geht es bei 3R um bessere Wissenschaft. Ich glaube, wir befinden uns derzeit an einem Wendepunkt. Wir müssen bei der Konzipierung von Studien anders denken und die Erkenntnisse aus In-chemico-, In-silico- und In-vitro-Testverfahren so ergänzen, dass im Idealfall nur ein einziger gezielter Tierversuch erforderlich ist.

Die vollständige Abschaffung von Tierversuchen ist schwierig, aber ich bin davon überzeugt, dass wir durch schrittweise Verbesserungen, natürlich auf der Grundlage von Fakten, eine positive Entwicklung erreichen werden. Der Wille ist bei uns als zuständiger Regierung und auch bei der pharmazeutischen Industrie vorhanden, die stark in dieses Projekt investiert. In der Tat gibt es eine weltweite Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden, einschließlich europäischer, amerikanischer und japanischer Partner, und es existieren bereits internationale Leitlinien für die Qualifizierung bestimmter 3R-Methoden.“

Europäische Zusammenarbeit mit belgischem Spitzen-Know-how

Die nicht-klinischen Evaluatoren der FAAG arbeiten in einer europäischen Partnerschaft mit der EMA als Drehscheibe. Im Mai 2022 wurde die Funktionsweise der bestehenden EMA-Arbeitsgruppen mit nicht-klinischen Evaluatoren reformiert. Von da an wurde die Non-clinical Working Party (NcWP) als zentrale Arbeitsgruppe mit zwei belgischen Mitgliedern, Sonja Beken und Karen Van Malderen, eingerichtet. Eine Bestätigung des Fachwissens der FAAG, da die Mitglieder dieser Arbeitsgruppe nicht mehr von den einzelnen Mitgliedstaaten entsandt werden, sondern ausschließlich auf der Grundlage ihrer Erfahrungen und Kenntnisse ausgewählt werden. Karen Van Malderen wurde zur stellvertretenden Vorsitzenden der Arbeitsgruppe gewählt.

Die NcWP leistet auf Anfrage verschiedener EMA-Ausschüsse produktbezogene Unterstützung. Die Arbeitsgruppe erstellt, überprüft und aktualisiert außerdem Leitlinien und Konzeptpapiere, beteiligt sich an der europäischen und internationalen Zusammenarbeit, hält Kontakt zu Interessengruppen wie Vertretern der Pharmaindustrie und bietet Schulungen und Workshops für Evaluatoren an.

Karen Van Malderen, nicht-klinische Evaluatorin bei der FAAG und Vizepräsidentin der NcWP:
„Wir haben 2022 mit der NcWP einen guten Start hingelegt. Die bereits auf dem Tisch liegenden Akten wurden von der neu gebildeten Arbeitsgruppe weitergeführt, und wir erkannten schnell die vielen Vorteile, die sich daraus ergaben, dass das wichtigste nicht-klinische Fachwissen nun zentralisiert wurde. Neben der produktbezogenen Beratung gibt es zwei Bereiche, die erwähnenswert sind.

Karen Van Malderen

Karen Van Malderen

Der erste sind die Lehren, die aus der Corona-Pandemie gezogen wurden. Wir möchten die Effizienz und den Pragmatismus, mit denen wir damals gearbeitet haben, in unsere Prozesse einfließen lassen und gleichzeitig die Fallstricke, die wir damals erkannt haben, berücksichtigen. Was wir beachten müssen, gilt sowohl für Impfstoffe und andere neue Arzneimittel als auch für die Verwendung bestehender Arzneimittel unter neuen Bedingungen oder das Repurposing. Der zweite Bereich ist die Präsenz von Nitrosaminen in Arzneimitteln. Nitrosamine sind chemische Verunreinigungen, die bei der Herstellung vieler Arzneimittel auftreten und für die seit 2018 eine Analyse zur Lösungsfindung durchgeführt wird. Für beide Bereiche verfügen wir in der FAAG über das notwendige Fachwissen und beteiligen uns aktiv an den Beratungen.“

Die Auswirkungen neuer Technologien, eine sich ständig verändernde Gesellschaft und eine intensive multidisziplinäre Zusammenarbeit (wissenschaftlich und behördlich) sind eindeutig Teil der Arbeit der nicht-klinischen Evaluatoren in der FAAG. Die Arbeit dieser Beamten mag außerhalb des Scheinwerferlichts stattfinden, aber sie hat einen enormen Einfluss auf die Arzneimittelentwicklung.

Unsere FAAG-Experten

Karen Van Malderen ist Apothekerin und Toxikologin. Sie arbeitet als nicht-klinische Evaluatorin mit Fokus auf pädiatrischen Anwendungen. Sie war fünf Jahre lang Vorsitzende der Arbeitsgruppe der nicht-klinischen Evaluatoren des Pädiatrieausschusses (PDCO) der EMA. Heute ist sie stellvertretende Vorsitzende der erneuerten nicht-klinischen Arbeitsgruppe (NWCP) und sitzt als FAAG-Delegierte im PDCO der EMA.

Sonja Beken ist Biologin, Toxikologin und Doktorin der pharmazeutischen Wissenschaften. Sie war maßgeblich am Aufbau des Teams der nicht-klinischen Evaluatoren in der FAAG beteiligt und leitet das Team noch immer. Sie war seit 2001 Mitglied der Safety Working Party (SWP) und von 2013-2016 stellvertretende Vorsitzende. Sie war Vorsitzende der ersten 3R-Arbeitsgruppen der EMA (2010-2016) und ist derzeit Vorsitzende der neuen 3R-Arbeitsgruppe (J3RsWP) bei der EMA.

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